Winterexpeditionen in der Arktis wären in dieser Region ohne Hubschrauber nicht durchführbar. Wir haben das Glück, vom russischen Militär zwei Hubschrauber einschließlich dreiköpfiger Besatzung zur Verfügung gestellt bekommen zu haben. Zum Einsatz kommen zwei Maschinen des Typs MI-8. Dreißig Jahre nach Indienststellung ist die MI-8 in der Kategorie Hubschrauber noch immer das Rückrat der russischen Militär- und Zivilluftfahrt. Allen Unkenrufen zum Trotz transportiert sie Mensch und Fracht zuverlässig auch in die unwirklichsten und entlegensten Gegenden des russischen Riesenreichs.
Bei unserer Ankunft am Flughafen laufen die Turbinen der beiden Hubschrauber bereits warm. Das Flugwetter wirft noch ein kleines Fragezeichen auf, ob wir wirklich werden starten können. Schon bei Sichtweiten unter 1.000 Meter geht grundsätzlich nichts mehr. Aber eine halbe Stunde später hat sich der unter Arktispiloten gefürchtete Whiteout über dem Flughafen verzogen, und die Piloten beginnen mit den Startvorbereitungen.
Jens, einer unserer erfahrenen Expeditonsteilnehmer, erläutert – den Piloten fehlen hierfür die Englischkenntnisse - knapp und bündig die Sicherheitshinweise. Man ist bei solchen Flügen immer auch ein bisschen Besatzungsmitglied. Die Sicherheitshinweise erfolgen von draußen bevor wir einsteigen, da das Gefährdungspotential dort am größten ist. Laufende Rotoren sind eine ernst zu nehmende Gefahrenquelle. Sauerstoffmasken fehlen; sie sind bei diesem Flug auch nicht vorgeschrieben. Diejenigen, die das erste mal an Bord einer MI-8 gehen, sind überrascht beim Anblick der drei großen Kerosintanks in der Kabine.
Unsere Ausrüstung ist schnell verstaut; bleibt die Unterbringung der Passagiere. Drei nehmen auf den zur Verfügung stehenden Sitzen Platz, der Rest macht es sich auf den Zargeskisten, die zwischen und neben den Kerosintanks stehen, bequem. Noch schnell die Ohrenstöpsel eingesetzt und los geht’s.
Nach eineinhalb Stunden haben wir das Ziel erreicht. Hubschrauberlandungen auf dem Eis verlangen viel Fingerspitzengefühl. Der Hubschrauber nähert sich zunächst einmal dem Landeplatz, ohne hierbei den Boden zu berühren. Unser Eisexperte Kostja springt aus dem Hubschrauber. Mit dabei: ein Eisbohrer. Mit diesem martialisch aussehenden Gerät und unter Einsatz seines Körpergewichts treibt Kostja ein Loch in die Eisdecke, den lärmenden Hubschrauber unmittelbar neben und über sich. Ein Meter sollte das Eis schon mächtig sein, damit der Hubschrauber landen kann. Am Ende sind es 1,35 m. Der Pilot lässt den Hubschrauber wie ein Flummiball auf der Eisfläche auftischen, um sich letzte Gewissheit über die Tragfähigkeit zu verschaffen.
Aussteigen! In ca. 100 Meter Entfernung die Polynja, das Objekt unserer Forschungsbegierde. Die Polynja ist, einfach gesagt, ein Gebiet des Eisaufbruchs. Mitten in der Arktis öffnet sich die Eisfläche und lässt einen Wasserweg entstehen, der sich rund um die Polarkappe erstreckt und seine Breite ständig ändert.
Die Arktisnovizen unter uns fühlen sich, als sie die drei Leiterstufen aus dem Hubschrauber heruntersteigen, für einen kurzen Moment wie Armstrong bei seinem ersten Schritt auf die Mondoberfläche. Vor, neben und hinter einem Eisflächen, so weit das Auge reicht. In den Flächen reflektieren sich die Sonnenstrahlen mit die Augen blendender Intensität. Sofort fällt das Fehlen jeglicher Geräusche auf. Steht man einfach nur da, ist es totenstill. Man stellt sich vor, wie sich vor mehr als 100 Jahren die ersten Forscher ihren Weg Richtung Nordpol gebahnt haben. Es beschleicht einen ein beklemmendes, Respekt einflößendes Gefühl bei dem Gedanken, man müsse von hier aus mit schmaler Ausrüstung und ohne zu wissen, was einen erwartet, loslaufen.
Derlei Forscherromantik ist unseren Piloten berufsbezogen natürlich eher fremd. Sie sind damit beschäftigt, die Hubschrauber jederzeit in startbereitem Zustand zu halten. Dazu gehört, dass die Motoren alle 30 Minuten angeschmissen werden, um das Einfrieren der Flüssigstoffe im Motor zu verhindern und gleichzeitig die Batterie optimal aufgeladen zu halten. Zugegeben: keine sehr spannende Tätigkeit für einen fünfstündigen Aufenthalt inmitten von nichts.
Etwas Abwechslung verspricht die winterliche Lieblingsbeschäftigung des russischen Mannes, das Eisfischen. Wenn bloß nicht die beißende Kälte wäre! - Da kommt es gelegen, dass die MI-8 in der Kabine über eine Bodenluke unmittelbar über der Eisfläche verfügt. Von der Luke aus ließe sich Eisfischerei aus der Wärme des Hubschraubers betreiben. Also Bodenluke auf und Eisbohrer in Funktion gesetzt. Schade nur, dass technische Schwierigkeiten mit dem Bohrgerät den Ambitionen der Piloten heute einen Strich durch die Rechnung machen.
Und wir hatten uns schon alle so auf ein ausgefallenes Fotomotiv gefreut...